Kriminalstatistik Gewalt unter Kindern: Weshalb Minderjährige zu Tätern werden
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04. Dezember 2024, 09:31 Uhr
Ob in Freudenberg, Dortmund oder zuletzt in Leipzig - immer wieder kommt es zu Fällen brutaler Gewalt unter Minderjährigen. Die Kriminalstatistik für das Jahr 2023 zeigt: Durch Kinder und Jugendliche begangene Straftaten haben im Vergleich zum Vorjahr erneut zugenommen. Wie sehen die aktuellen Zahlen aus - und was sind mögliche Ursachen für ihren Anstieg?
Inhalt des Artikels:
Kinder als Täter: Sprunghafter Anstieg minderjähriger Tatverdächtiger
Die Kriminalitätsstatistik 2023 gibt erneut Anlass zur Sorge: Das zweite Jahr in Folge ist die Zahl der tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen gestiegen - und liegt deutlich über dem Vor-Corona-Niveau.
Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der tatverdächtigen Kinder (unter 14 Jahren) um zwölf Prozent auf rund 104.000 angewachsen. Die der Jugendlichen um 9,5 Prozent auf rund 207.000. Bereits 2022 wurde ein starker Anstieg in beiden Gruppen festgestellt.
Welche Straftaten begehen Kinder?
Auch wenn die Zahlen zunächst erschrecken: Nicht jede durch Kinder und Jugendliche verübte Straftat ist dramatisch. Denn in den Statistiken taucht alles auf, was zur Anzeige gebracht wurde - also auch das Betreten eines fremden Grundstücks, ein kleiner Ladendiebstahl oder das Herunterreißen eines Wahlplakats.
Bei den von Kindern verübten Taten handelt es sich überwiegend um Ladendiebstahl, Sachbeschädigung, Beleidigung oder leichte Körperverletzung.
Die wenigsten Kinder und Jugendlichen haben häufiger mit der Polizei zu tun, bestätigt Beate Ostertag von der Zentralstelle für Prävention des LKA Berlin, Abteilung Jugenddelinquenz, dem Deutschlandfunk Kultur.
Über 70 Prozent der Jugendlichen werden nie polizeilich auffällig. Die schwänzen Schule. Das ist normales jugendliches Verhalten. Von den übrigen 30 Prozent werden die meisten nur ein bis drei Mal auffällig. Mit Ladendiebstahl oder Körperverletzung, so einfache Dinge oder Beleidigung oder Ähnliches.
Die Schule als Tatort
Die meisten von Kindern und Jugendlichen verübten Straftaten werden im schulischen Kontext verübt - vor allem in der Mittagspause und nach Schulschluss.
Das deckt sich mit den Beobachtungen von Lehrerinnen und Lehrern. Einer repräsentativen Forsa-Umfrage von August 2024 zufolge, sieht mehr als die Hälfte der befragten Lehrkräfte seit dem Ende der Corona-Pandemie einen Anstieg von psychischer und physischer Gewalt unter Schülern.
Die häufigsten Formen der psychischen Gewalt seien Beschimpfungen, Beleidigungen, Anschreien und Herabsetzen. Mobbing wird von einem Drittel der Lehrkräfte wahrgenommen, Cyber-Mobbing von 23 Prozent.
Körperliche Gewalt zeigt sich in einem Drittel der angegebenen Fälle in Schlägen und Tritten. Acht Prozent der Lehrenden erleben oft Angriffe mit Gegenständen.
Verbreitung pornografischer Schriften
Dass der Anteil der minderjährigen Tatverdächtigen bei der "Verbreitung pornografischer Schriften" mit rund 41 Prozent sehr hoch ist, hängt nach Einschätzung des Bundeskriminalamts damit zusammen, dass Kinder und Jugendliche in Gruppenchats bei WhatsApp, Instagram oder Snapchat meist unangemessene Bilder teilen, ohne zu wissen, dass dies strafbar ist.
2021 ist das Gesetz gegen sogenannte Kinderpornografie verschärft worden. Damals waren Verbreitung, Besitz und Erwerb von Darstellungen sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen zum Verbrechen hochgestuft worden. Das hat in der Praxis dazu geführt, dass sich nun auch Schüler strafbar machen können, wenn sie ein entsprechendes Bild erhalten und nicht gleich löschen.
Gleiches gilt übrigens auch für Eltern, die eine solche Aufnahme an eine Lehrkraft weiterleiten, um diese auf einen unangemessenen Inhalt hinzuweisen.
Suche nach Anerkennung in sozialen Netzwerken
Doch nicht "nur" pornografische Inhalte, auch andere Formen der Gewalt werden von Kindern und Jugendlichen im Netz geteilt.
Womöglich werden manche Taten überhaupt erst begangen, um sie zu filmen, vermutet Ingo Siebert, Leiter der Geschäftsstelle Landeskommission Berlin gegen Gewalt, gegenüber Deutschlandfunk Kultur.
Junge Menschen finden sich in Chatgruppen und spornen sich dort gegenseitig an. Gemeinsam fühlt man sich stark, erfährt ein Gefühl der Anerkennung und Zugehörigkeit. Und wenn es dafür Gewalt braucht, dann scheut man auch davor nicht zurück.
Warum werden Kinder und Jugendliche immer häufiger zu Tätern?
Die Gründe, weshalb bereits Kinder und Jugendliche zu Tätern werden, sind zahlreich.
Kinder reproduzieren, was ihnen vorgelebt wird, sagen Experten. Wenn eine Gesellschaft stärker von Aggression geprägt ist, ist es kein Wunder, dass auch Kinder immer häufiger Grenzen überschreiten.
Nachwirkungen der Corona-Pandemie
Einen wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hat die Corona-Pandemie. Die Maßnahmen wurden weniger, die Jugendgewalt mehr. Bundesweit ist die Zahl tatverdächtiger Kinder und Jugendlicher im Jahr 2023 im Vergleich zu 2019 deutlich gestiegen: bei Jugendlichen um 17 Prozent, bei Kindern sogar um 43 Prozent.
Noch immer wird nachgeholt, was zwei Jahre lang nicht geübt und ausgelebt werden konnte, erklärt Jugendstrafrechtlerin Theresia Höynck Deutschlandfunk Kultur.
In Zeiten, in denen sie sich ganz stark entwickeln, haben sie viele Entwicklungsräume nicht gehabt. Und das holen die jetzt in Turbo nach.
Fachkräftemangel an Schulen
Hinzu kommt eine unzureichende Betreuung der Kinder und Jugendlichen in den Schulen. Rund 14.500 Lehrkräfte fehlen bundesweit. Die Folge sind Fehlstunden, Krankheiten und Vertretungen. Das wird vor allem für die Kinder zum Problem, die eine besondere Unterstützung bräuchten.
Denn: Von Freizeitaktivitäten können Kinder ausgeschlossen werden, wenn ihr Verhalten das nötig macht. Von der Schule nicht.
Sozialer Hintergrund entscheidet
Der Kriminalitätsstatistik 2023 zufolge hat der Anteil nicht-deutscher Tatverdächtiger überproportional zugenommen: Nicht-Deutsche sind - gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil - etwa doppelt so häufig tatverdächtig wie Deutsche. Das gilt auch bei Kindern und Jugendlichen.
Die Gründe dafür liegen oft in ihrer sozialen Situation. Ausländer haben im Bevölkerungsdurchschnitt einen niedrigeren sozialen Status und ein niedrigeres Bildungsniveau. Deutsche mit ähnlichen Merkmalen sind ähnlich kriminell.
Intensivtäter in der Regel männlich
Was allerdings auffällt: Fast alle Intensivtäter in Deutschland sind männlich. Experten sehen dafür sowohl biologische als auch soziale Ursachen: Mädchen wenden Aggression eher gegen sich selbst, Jungs verarbeiten nach außen.
Hinzu kommt seit der Corona-Krise ein sich wandelndes Männerbild: "Das Thema Männlichkeitskonzepte, das Thema Stärke spielt eine große Rolle bei der Jugendkriminalität", erklärt Jugendstrafrechtlerin Theresia Höynck Deutschlandfunk Kultur. Für Jugendliche, die sich mit diesen Werten identifizieren, eine echte Gefahr. Denn schnell werden aus vermeintlichen Tätern dann Opfer.
Kein Täter werden - wie kann man Kinder und Jugendliche schützen?
Kinder müssen gewaltfrei und in einem Umfeld aufwachsen, "in dem sie sich auch entwickeln können und eine reelle Chance haben, in der Leistungsgesellschaft anzukommen", erläutert BKA-Chef Holger Münch.
Eltern sollten darum bemüht sein, den Anschluss zum eigenen Kind nicht zu verlieren. Mit wem umgibt sich der eigene Nachwuchs - welche Themen treiben ihn um?
Dieses Thema im Programm: Das Erste | BRISANT | 26. November 2024 | 17:15 Uhr