Menschen stehen nebeneinander
Der Künstler und seine Musen: Ethan James Green (Mitte) hat die Hoheit über den kommenden Pirelli-Kalender. Bildrechte: picture alliance/Sipa USA/SGP

Meinung Pirelli und die Wiedergeburt der Aktaufnahmen - Warum genau das zeitgemäß ist

15. November 2024, 18:06 Uhr

Isabel Möller
Bildrechte: Raphaela Fietta

51 Jahre Pirelli-Kalender - oder "The Cal", wie er in Glam-bewussten Kennerkreisen genannt wird. Braucht man das noch oder kann der weg?

11.000 Exemplare wurden in diesem Jahr gedruckt - eine hochelitäre Angelegenheit, denn kaufen kann man das gute Stück nicht. Blättern dürfen nur ausgewählte Kunden. Und trotzdem schlägt der Kalender Jahr für Jahr hohe Wellen - das kann man so oder so sehen.

Fakt ist: Der Pirelli wurde ikonisiert, zerrissen, verteufelt, wiedergeboren und zu Recht wieder kritisiert. Doch ob Lob oder Kritik: Begehrt war er immer. Verknappung schafft Begehrlichkeit - nicht nur die nackten Tatsachen.

Damit hat der Pirelli eh schon lange nicht mehr viel zu tun. Die vergangenen Jahre war er arty, woke, mal schwarz-weiß, mal quietsch-bunt, um 2025 etwas ganz Verrücktes zu machen: zu seinen Wurzeln zurückzukehren.

Die berechtigte Gretchenfrage: Kann man das Rad wirklich 51 Mal neu erfinden?

Macht er Nacktheit wieder en vogue?

Pirelli-Kalender. Das bedeutet: große Namen vor und hinter der Kamera. Und auch 2025 enttäuscht der Pirelli-Cast nicht.

Ob alt oder jung, makellos, mit Charakter im Gesicht, männlich oder weiblich - diese Stars lockte der Reifenhersteller in diesem Jahr vor die Linse:

  • Padma Lakshmi, US-amerikanische Schauspielerin und Fernsehmoderatorin (bekannt u.a. aus "Royal Pains")
  • Vincent Cassel, französischer Schauspieler (bekannt aus "Black Swan")
  • Hunter Schafer, US-amerikanisches Model, Schauspielerin und LGBTQIA*-Aktivistin (bekannt u.a. aus "Euphoria")
  • Simone Ashley, britische Schauspielerin (bekannt u.a. aus "Bridgerton")
  • Elodie, italienische Sängerin
  • Hoyeon, südkoreanisches Model und Schauspielerin (bekannt u.a. aus "Squid Game")
  • Jodie Turner-Smith, britische Schauspielerin und Model (bekannt u.a. aus "Sex Education")
  • Martine Gutierrez, US-amerikanische Bild- und Performancekünstlerin
  • Connie Fleming, Model, Künstlerin, Dragqueen
  • John Boyega, britischer Schauspieler und Filmproduzent (bekannt u.a. aus "Star Wars: Der Aufstieg Skywalkers")
  • Jenny Shimizu, US-amerikanisches Model

Inszeniert wurde die exklusive Riege von Ethan James Green - ein 34-jähriger, hochdekorierter Modefotograf aus New York, der selbst als Male-Model bei der renommierten Agentur "Ford Models" unter Vertrag steht - und zwar seit er 17 Jahre alt ist.

Padma Lakshmi, Ethan James Green and Simone Ashley
Fotograf Ethan James Green mit Moderatorin Padma Lakshmi (links) und Schauspielerin Simone Ashley. Bildrechte: picture alliance / Photoshot

60 Jahre Pirelli - Der Staub muss weg

Der Foto-Jungspund hatte sie schon alle vor der Linse: Er inszenierte das gefallene und wieder auferstandene 90s-Topmodel Linda Evangelista im 50er-Jahre-Richard-Avedon-Look. Lady Gaga holte er als Harley Quinn aufs Vogue-Cover und verewigte Margot Robbie als lebende Hollywood-Barbie, die im vergangenen Jahr die Filmwelt um den Verstand brachte.

60 Jahre Pirelli (in den Jahren 1975-1983 gab es keine Ausgabe) in den Händen eines 34-Jährigen? Das passt - allein schon zum diesjährigen Motto: Refresh and Reveal - Auffrischen und Offenbaren.

Erfrischung gefällig?

Was genau Ethan James Green da auffrischt? Die Nacktheit. Ausgerechnet. Und das, wo sich der Pirelli doch endlich ein künstlerisch-anspruchsvolles Image erarbeitet hat. Unterstrichen wird diese Gewichtigkeit auch dadurch, dass die aktuelle Ausgabe im altehrwürdigen Naturhistorischen Museum in London präsentiert wurde.

Jahrelang wurde der Pirelli in Frage gestellt: Auf den Monatsseiten? Junge Frauen, so schön wie antike Skulpturen. Makellos, hüllenlos. Früher galt der Kalender als Inbegriff der Aktfotografie. Die Rollen klar verteilt: Frauen vor, Männer hinter der Kamera. Richard Avedon, Herb Ritts, Steven Meisel - um mal ein bisschen Namedropping zu betreiben.

Der Pirelli war jahrzehntelang ein Produkt, das allein dem "Male Gaze", also dem männlichen Blick diente. Dass das blöd und mächtig schief lief, hat irgendwann auch Pirelli selbst gemerkt. Nackt, nackt, nackt - das ist eben auch das Mädchen auf Seite 3. Dafür braucht es keine Avedons und Ritts dieser Welt.

Pirelli-Kalender
Schönheit hat mindestens so viele Seiten wie der Pirelli-Kalender. Bildrechte: picture alliance/Alexander Schuhmann

Pirellis Metamorphose

Mitte der Nullerjahre war damit erst einmal Schluss. Nackte Körper spielten bei Pirelli kaum noch eine Rolle. Dafür wurde der Kalender in mühsamer PR-Arbeit zu einem Manifest für Weiblichkeit und Diversität.

Im Jahr 20012 durfte mit Adriana Lima eine schwangere Frau in den Kalender. Sophia Loren war 73 Jahre alt, als sie 2007 für Pirelli fotografiert wurde. Ganz groß: 2016 fotografierte Annie Leibovitz 13 Frauen, darunter die damals 82-jährige Künstlerin Yoko Ono, Tennis-Ass Serena Williams und Musikerin Patti Smith.

Ein Foto der japanischen Multimediakünstlerin Yoko Ono, aufgenommen für den Pirelli-Kalender 2016, ausgestellt in einer Ausstellung mit dem Titel „THE CAL: Pirelli Calendar 2016. Annie Leibovitz“ im Rahmen der Photobiennale 2016 im Multimedia Art Museum in Moskau
Yoko Ono für Pirelli von Annie Leibovitz inszeniert. Bildrechte: picture alliance / dpa | Valery Sharifulin

Mut zur Schönheit oder unnötiges Comeback der Sexyness?

Das war richtig und wichtig. Nun also wieder die Rückwärtsrolle - die aber mindestens genauso richtig und wichtig ist.

Ethan James Green feiert in der aktuellen Pirelli-Ausgabe das Comeback der Sexyness - und machte sich dafür direkt selbst nackig. Ein Fotograf wird zur eigenen Pirelli-Muse.

In 24 Fotos inszeniert Ethan James Green die Nacktheit der anderen Models behutsam, ganz natürlich, unaufdringlich, unvollkommen, pur und ohne roten Faden. Mal in Schwarzweiß, mal in Farbe. Mal in der Natur, mal im Studio. Mal normschön, mal mit Ecken und Kanten.

Foto-Shooting
Behind the Scenes: Vincent Cassel wird für den Pirelli-Kalender ins Szene gesetzt. Bildrechte: picture alliance/abaca

Das Wichtigste: Er inszenierte die Models selbstbestimmt. Jede(r) der Porträtierten entschied, wie viel sie bzw. er von sich preisgeben wollte. Nur der Fotograf selbst zeigte sich ganz so, wie Gott ihn schuf - aus Gründen:

Ich habe mich selbst in den Kalender aufgenommen, weil ich die einzige Person bin, der ich völlige Nacktheit zumuten konnte.

Ethan James Green dpa

Denn ein Denkfehler vieler: "MeToo" oder Feminismus haben nichts mit Nacktheit zu tun. Es geht um den freien Willen.

Nacktheit mit neuen Maßstäben

Schönheit ist eine Wundertüte an Empfindungen. Das gilt auch für den diesjährigen Kalender.

Die Welt hat sich stark verändert, seit Pirelli das letzte Mal einen wirklich sexy Kalender herausgebracht hat. [...] Ich fand es spannend zu erforschen, wie wir Schönheit heute sehen und wer in der klassischen Pirelli Cal-Arena als schön gilt.

Ethan James Green dpa

Seit 60 Jahren ist der Pirelli Taktgeber des Zeitgeistes. Und auch die für viele überraschende Nackt-Kehrtwende trifft den Puls der Zeit. 2024 darf eben jeder so nackt oder bekleidet sein, wie er will.

Zurück zur Gretchenfrage: Kann man das Rad wirklich 51 Mal neu erfinden? Man kann vor- und zurückspulen. Das ist fast dasselbe. Mal sehen, wie Schönheit und Menschsein 2026 inszeniert werden.

Dieses Thema im Programm: Das Erste | BRISANT | 13. November 2024 | 17:15 Uhr

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