Der "Titan" ganz offen Leistungsdruck und Depressionen - Oliver Kahn blickt auf dunkle Momente seiner Karriere zurück
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Ex-Torwart Oliver Kahn galt während seiner Fußball-Karriere als unfehlbar und unnahbar. Doch entscheidende Patzer in wichtigen Spielen, enormer Leistungsdruck und auch der Hass gegnerischer Fans haben tiefe emotionale Gräben beim "Titan" aufgerissen. In einem Podcast gewährte der 53-Jährige jetzt seltene Blicke hinter seine Fassade.

Oliver Kahn wurde zu aktiven Zeiten als Torwart der Fußball-Nationalmannschaft und beim FC Bayern München wegen seiner sportlichen Klasse und siegessicheren Ausstrahlung schlicht als der "Titan" bezeichnet. Doch so unnahbar und unfehlbar wie der heute 53-Jährige nach außen oft wirkte, so psychisch angegriffen ist er tatsächlich gewesen. Das erzählte er jetzt in einem gemeinsamen Podcast mit seinem langjährigen Therapeuten.
Tiefpunkt WM-Finale 2002
Zum Hintergrund: Jeder Fußballfan, der sich an das WM-Finale 2002 in Japan erinnert, kennt dieses Bild: Oliver Kahn, damals 33 Jahre alt und Nummer eins der deutschen Nationalmannschaft, sitzt nach dem Schlusspfiff minutenlang am Pfosten seines Tores im Final-Stadion von Yokohama. Sein Blick ist leer. Gerade hat der "Titan" im Finale gegen Brasilien einen sehr irdischen Fehler gemacht und damit die Finalniederlage der Deutschen mit eingeleitet.
Der Patzer zeigte, dass der "Titan" doch fehlbar war, was ihn in ein tiefes Loch stürzte. "Mir schauten zwei Milliarden Menschen beim Versagen zu", sagt er im Podcast. Die Scham darüber, sein überbordender Ehrgeiz und wachsender Erfolgsdruck von außen hätten ihn schließlich verzweifeln lassen.
Affenlaute, Furcht und Bananen
Inzwischen hat Kahn die Fußballschuhe längst an den Nagel gehängt und ist Vorstandschef des FC Bayern. Er ist ein mächtiger Mann auf der Fußball-Bühne und hat einen Abschluss als Master of Business Administration. Beim ersten Blick auf den heutigen Kahn erkennt man, dass er längst nicht mehr der Wüterich ist, der bei einem Auswärtsspiel in Dortmund den gegnerischen Stürmer in den Hals biss oder seine Mitspieler rabiat am Kragen packte, um sie aufzurütteln. Kahn genoss größten Respekt und war deshalb bei seinen Gegnern gefürchtet. Affenlaute gegnerischer Fans und Bananen-Würfe in Kahns Richtung gehörten deshalb auf fremden Plätzen stets dazu.
Und das ging nicht spurlos am "Titan" vorbei. Er selbst sagte schon in der Vergangenheit, dass seine Fehler und seine Verbissenheit ihn in einen Tunnel trieben. Er nannte es "Burnout" oder "ausgepowert sein". Gemeint ist aber die Volkskrankheit Depression, die dazu führte, dass der "Vul-Kahn", wie er auch oft genannt wurde, erlosch.
Kahn will Depressionen von ihrem Stigma befreien
Heute will Oliver Kahn die psychische Krankheit von ihrem Stigma befreien und ermutigt Betroffene, sich professionelle Hilfe zu holen. Er selbst hat das nach eigener Aussage seit Ende der 90er Jahre getan - und zwar beim Depressionsforscher Florian Holsboer. Erst mit seiner Hilfe habe Kahn gelernt, besser mit dem Leistungsdruck und den Nackenschlägen umzugehen. Der Mediziner habe nicht wie andere "Reiß dich mal zusammen" gesagt, sondern hörte zu und entwickelte einen Plan, so Kahn. Arbeit an sich selbst, Veränderung von Perspektiven, das waren die Meilensteine, die aus Kahn erst einen ausgeglicheneren Torhüter und dann auch Menschen machten.
Kahn lernte, Dinge anders einzuordnen. Er wollte aber nicht auf den Fußball verzichten. "Ich wollte die Dinge, meine Person in meinem Beruf verändern, ich wollte nicht flüchten." Diese Widerstandskraft im stressigen beruflichen Umfeld mit professioneller Hilfe zu entwickeln, ist für Kahn auch eine der Empfehlungen aus seinem eigenen Leben. Und auch wenn das den Torwart Kahn vielleicht weniger unterhaltsam machte, wurde der Mensch dahinter nicht weniger interessant.
BRISANT/dpa
Dieses Thema im Programm: Das Erste | BRISANT | 12. Dezember 2022 | 17:15 Uhr